Kein Informatik-Studium muss an Mathematik scheitern
Bachelorstudierende Jonas Bingel und Deborah Christina Gradl erhalten ATHENE-Hauptpreis für Gute Lehre
21.11.2025
Mathematik ist eine wichtige Grundlage für ein erfolgreiches Informatikstudium. Die Pflichtveranstaltungen Mathe I und Mathe II sind aber für viele Studienanfänger*innen eine Herausforderung. Auch Jonas Bingel und Deborah Christina Gradl haben erst im Bachelorstudium die Freude an Formeln und der mathematischen Denkweise entdeckt. Diese Erfahrung wollten sie auch anderen Studierenden ermöglichen und entwickelten mit viel Einsatz ein Konzept, das zeigt, wie wirkungsvoll Peer-Teaching sein kann. Für ihr Engagement erhielten sie gestern den Athene-Hauptpreis für Gute Lehre der Carlo und Karin Giersch-Stiftung. Im Interview schildern die beiden, wie ihre Idee entstand und was sie dabei antreibt.
Fachbereich Informatik: Ihr habt kürzlich einen großen Klausurvorbereitungskurs für Mathe I organisiert und für Mathe II zusätzlich eine Hörsaalübung. Wie kam es dazu und wie habt ihr euch kennengelernt?
Deborah: Wir studieren beide Informatik im Bachelor, allerdings in unterschiedlichen Semestern. Kennengelernt haben wir uns über den studentischen Informatik-Discord. Ich war im Wintersemester 22/23 und im Sommersemester 23 Mathetutorin für Mathe I/II für Informatik und habe in dieser Zeit – und auch danach – häufig Mathefragen auf dem Discord beantwortet.Als Jonas später mit dem Studium begonnen hat, ist er dort zunächst als Fragesteller aufgetaucht und im Wintersemester 24/25 hat er dann selbst beschlossen, Mathetutor für Mathe I für Informatik zu werden. Einmal war ich in seiner Mathe-I-Übung zu Besuch und war wirklich begeistert: Besonders beeindruckt hat mich, wie klar er seine Lösungen strukturiert, typische Muster und Zusammenhänge herausarbeitet und das in seinen Folien so aufbereitet, dass man sofort eine gute Orientierung bekommt.
Jonas: Genau. Nach Mathe I und II war für mich klar, dass ich auch tutorieren möchte. Da ich ein Praktikum in der Lehre absolviert habe, wollte ich dieses andere Angebot „der Lehre“ mal ausprobieren und habe es wegen des positiven Feedbacks der Teilnehmenden weitergeführt.
Die Idee des großen Klausurvorbereitungskurses entstand dann ziemlich spontan: Eine Agentur bot einen Tageskurs für viel Geld an. Wir dachten: „Das machen wir kostenlos.“
Schließlich wurden aus der Idee drei Tage im großen Hexagon. Im Folgesemester bekam ich das Angebot die Hörsaalübung zu halten und für mich war klar, dass ich dies gerne mit Deborah zusammen machen würde, da wir gut befreundet sind und uns fachlich gut ergänzen. Dieser Vorschlag wurde dann direkt angenommen und wir durften diese vollkommen frei gestalten.
Was unterscheidet eure Hörsaalübung von den klassischen Matheübungen?
Jonas: Es gibt für Mathe-Tutorien eigentlich dieses Prinzip der minimalen Hilfe. Die Leute sollen selbst versuchen. Unser Ansatz war eher Hilfe zur Selbsthilfe. Wir wollten den Leuten etwas an die Hand geben, damit sie die Aufgaben verstehen und lösen können.
Wir haben meistens so 2,5 Stunden gemacht. Zuerst haben wir Feedback zu den korrigierten Hausübungen gegeben, dann eine halbe Stunde die letzte Vorlesung zusammengefasst und nochmal versucht, eine Intuition oder Visualisierung dafür zu geben. Dann kam meistens noch ein Quiz, um die Leute in kurzen Fragen auf häufige Missverständnisse hinweisen zu können. Und dann haben wir vor allem vorgerechnet, um die Herangehensweise zu zeigen. Denn manchmal guckt man das Übungsblatt an und weiß gar nicht, wo man anfangen soll, wie man strukturiert vorgeht und es korrekt notiert.
Deborah: Ich habe einen relativ hohen Anspruch an die Studierenden – aber ich finde, der ist nur dann gerechtfertigt, wenn wir vorher auch zeigen, wie es geht. Mathematik ist auch eine Sprache: Es geht darum, wie man etwas formuliert und wie man es klar, schön und korrekt aufschreibt. Deshalb war es mir wichtig, viel Feedback zu geben, damit die Teilnehmenden die Möglichkeit haben, ihre Lösungen wirklich weiterzuentwickeln und es beim nächsten Mal und in der Klausur besser zu machen.
Jonas: Ja, wenn man diese Sprache noch nicht beherrscht, dann braucht man eine Lesehilfe für das Vorlesungsskript und eine strukturierte Arbeitsweise, um zu verstehen: „Okay, in dem Satz sind jetzt eigentlich gerade zwei Anweisungen drin, das muss ich tun.“ Aber wichtig ist, dass die Studierenden sich nicht nur berieseln lassen. Mathe lernt man nur, indem man es macht.
Ich wollte für andere der Guide sein, der mein Vater damals für mich war.
Deborah Christina Gradl
Ihr habt viel Freizeit für die Erstellung von Materialien und die ausführlichen Korrekturen der Hausübungen investiert. Woher kommt eure Motivation?
Deborah: Mein Vater ist Mathematiker und konnte mir mein Leben lang vieles in mathematischen Fächern erklären. Erst nach und nach ist mir klar geworden, was für ein großes Privileg das ist – jemanden zu haben, der einen unterstützt und Dinge erklärt, die man alleine oft gar nicht auf Anhieb sehen würde. So bin ich in Mathe immer sicherer geworden. Aber nicht alle haben diese Unterstützung zu Hause, und zusätzliche Hilfe wie Nachhilfe ist oft teuer und nicht für alle zugänglich.
Jonas: Bei mir ist es das Gegenteil: In meiner Familie hat niemand studiert. Ich war der Erste mit Abitur. Meine Eltern haben mich in vielen anderen Dingen unterstützt, aber da ging es natürlich leider nicht. Ich war sehr gut in meinem Mathe-Leistungskurs, auch dank meines engagierten Lehrers. Dies war jedoch zu meinem Studienstart in Darmstadt bereits fünf Jahre her.
Ich habe großes Interesse an Mathematik und theoretischer Informatik – weshalb ich überhaupt an die TUDa gekommen bin – und wollte daher auf Anhieb direkt alles verstehen. Wegen dieser Detailverliebtheit, bin ich aber im ersten Semester an Notationen und Details hängen geblieben. Deborah und andere Leute haben mir dann geholfen, das große Ganze zu sehen. Ich bin der Meinung, dass man, wenn man sich eine Intuition aufgebaut hat, die auch weitergeben kann. Und wenn es zumindest einer Person hilft, dann ist man irgendwie in der Pflicht, das zu teilen.
Wenn ich mir meinen Kopf gestoßen habe, heißt das nicht, dass sich andere Personen auch den Kopf stoßen müssen. Man kann einen Zettel hinkleben, mit „Achtung, ducken!“.
Jonas Bingel
Fachbereich Informatik: Ihr habt sehr positives Feedback bekommen – was freut euch am meisten?
Deborah: Also ich fand es sehr schön zu sehen, dass wir Leute inspiriert haben, sich auch zu engagieren oder auch Tutor*in zu werden. Mir ist es aber wichtig zu betonen, dass ein Klausurvorbereitungskurs nicht zu den regulären Aufgaben von Tutor*innen gehört. Wir haben neben unserem Studium sehr viel zusätzliche Zeit investiert, weil uns das Angebot am Herzen lag, und es soll daraus keine Erwartung entstehen, dass andere Tutor*innen Ähnliches anbieten müssen.
Jonas: Schön war auch, dass Leute gesagt haben, dass sie plötzlich Spaß an Mathe haben. Sie hatten vorher Sorge und Angst und dann war es plötzlich Neugier. Sie haben erkannt, dass Mathe ein wichtiges Werkzeug ist. Und genau dafür haben wir es ja gemacht.
Und von den Comicfiguren einer Teilnehmerin sind wir wirklich begeistert. Die sind so einfach und simpel, aber gleichzeitig ist so viel Ausdruck da drin.
Fachbereich Informatik: Wie geht es jetzt weiter?
Jonas: Ich werde den Klausurvorbereitungskurs für Mathe I nochmal halten, weil er wirklich eine Herzensangelegenheit von mir ist. Eine zusätzliche Hörsaalübung wäre neben meinem Teilzeitstudium und meinem Job leider zu zeitintensiv.
Deborah: Ich werde mich erstmal wieder mehr auf mein Studium konzentrieren. Aber – wenn Jonas Unterstützung benötigt, helfe ich gerne.
Vielen Dank für das Gespräch und herzlichen Glückwunsch zum verdienten ATHENE-Preis!
Text und Interview: Anne Grauenhorst
Über Jonas Bingel
Jonas Bingel studiert seit Herbst 2023 Informatik im Teilzeit-Bachelor an der TU Darmstadt, nachdem er zuvor einen ausbildungsintegrierten Bachelor in Wirtschaftsinformatik an der Hochschule Mainz abgeschlossen hatte. Seine fachlichen Schwerpunkte liegen in der Mathematik – insbesondere linearer Algebra und Optimierung – sowie in theoretischer Informatik und maschinellem Lernen. Darüber hinaus interessiert er sich für Visualisierung, Didaktik und Lehre und engagiert sich in der Fachschaft Informatik D120.
Über Deborah Christina Gradl
Deborah Christina Gradl studiert seit Herbst 2021 Informatik im Bachelor an der TU Darmstadt. Ihre fachlichen Schwerpunkte liegen in der Mathematik – insbesondere in Analysis und Optimierung – sowie in Regelungstechnik und Robotik. Zudem interessiert sie sich für Didaktik und Lehre und dabei insbesondere für die Erstellung von Übungsaufgaben. Sie ist Mitglied der DARE Robotics Hochschulgruppe der TU Darmstadt.
Übungsmaterialien
Interessierte und zukünftige Tutor*innen können die von Jonas Bingel und Deborah Christina Gradl erstellten gerne zur Inspiration nutzen und unter Quellenangabe verwenden.
Sie sind dauerhaft über die Webseite von Jonas Bingel abrufbar.